Ein Phantasieraum aus Wald und Körper
Was treiben die Frauen im Wald? Der Topos von Weiblichkeit und Natur zieht sich durch Mythologie und Kulturgeschichte. Nicht selten wird er sexuell aufgeladen und – wie so oft, wenn es um weibliche Lust gehen könnte - mit düsteren Assoziationen verknüpft. Mit Hexen etwa, die männermordend und babyfressend im Walde ihr Unwesen treiben. Oder mit den schwindsüchtigen Protagonistinnen der Romantik, die in wallenden weißen Gewändern in Wäldern schöne Leichen abgeben. Eine dringend überfällige, zeitgenössische Aktualisierung dieses Topos liefern Justyna Koeke und Mimosa Pale mit ihrem crossmedialen Kunstwerk Women in the Forest.
Zu sehen sind fotografische Lustspiele, die den Wald zum Schau- und Spielplatz einer Befreiung machen. Frauen und Männer entledigen sich hier gleichermaßen der ihnen zugewiesenen Klischees von Begehren. Dabei werden nicht nur kulturelle Stereotype überschrieben, es geht um mehr: Mit spielerischer Leichtigkeit evozieren diese Bilder ein neues Verständnis von Macht – eines, das gerade in der Aufhebung von Macht besteht. Aber der Reihe nach:
Für die Untersuchung und Befreiung der Lust zog es Justyna Koeke und Mimosa Pale buchstäblich ins Offene. Die Natur fungierte als wesentlicher Impulsgeber in ihrem Prozess. Die entstandenen Fotografien zeigen eine direkte Auseinandersetzung mit ihr, vielmehr noch: ein »Sich-Aussetzen« mit Haut und Haar. Nackte Körper treffen auf Pflanzen, Früchte, Erde, Stein oder Schnee.
Doch den Künstlerinnen ging es nicht bloß darum, eigene Lustvorstellungen zu inszenieren. Über die digitale Plattform Tinder suchten sie Partner für ein »künstlerisches Abenteuer« und luden zu Dates tief in den Wald. Tatsächlich mögen die männlichen Kooperateure, die dem digitalen Ruf der beiden Künstlerinnen gefolgt waren, an Hexen gedacht haben, als sie von den zwei Frauen am Wegesrand empfangen wurden. Die eine nackt, bis auf einen Wollpulli, die andere in einem rosa Morgenmantel, in der Hand eine Kettensäge. Doch die Männer waren nicht in einen Hinterhalt radikalisierter Feministinnen geraten, sondern in eine individuelle Performance.
Das Setup des Blinddates im Wald provozierte einen Zustand gegenseitiger Fragilität, fern von normativer Kontrolle sowie unmittelbarem Schutz: Die Männer, die kamen, lieferten sich einer unbekannten Situation aus, die Frauen lieferten sich den unbekannten Personen und deren Erwartungen aus. Und genau dies ist der Stoff, aus dem die Fotografien Women in the Forest gemacht sind: Erwartungen, Träume und Stereotype treffen auf den Freiraum der Natur und werden durch diese unmittelbare Situation transformiert. Eine Transformation, die von den Besuchern ebenso gestaltet wird, wie von den Künstlerinnen und die hier im Wald, frei von Scham oder Bewertung, erst einmal entstehen und sich entfalten darf. So öffnet sich ein neuer, gemeinsamer Phantasieraum – ein Phantasiekörper aus Mensch und Wald.
Women in the Forest ist daher genuin als crossmediales Kunstwerk zu denken: Aus der Kommunikation auf einer digitalen Plattform wird eine interaktive, individuelle Performance, die skulptural Natur und Körper verbindet, um sich schließlich wieder in digitalen Fotoarbeiten niederzuschlagen.
Die so entstandenen Bilder sind keine dokumentarischen Naturfotografien. Sie offenbaren sich selbst als Inszenierungen, künstliche Interventionen ins Ursprüngliche. Licht, Kadrage und Pose verraten das Menschliche im Natürlichen. Die Bilder versprühen Leichtigkeit, sind mal ironisch, mal erotisch und laden nicht nur dazu ein, eigene Vorstellungen von Begehren und Sinnlichkeit zu erweitern, sondern vor allem dazu, die kulturell reproduzierten Topoi von Lust zu revidieren.
Bei Women in the Forest geht es um Interaktion und Kommunikation. Das gegenseitige »Sich-Ausliefern« ist dabei zentral. Dadurch, dass sowohl die Performerinnen, als auch die Teilnehmer sich selbst und ihre Phantasien dem Kunstwerk ausliefern, entsteht eine gegenseitige Abhängigkeit, mehr noch – eine notwendige Verbundenheit. Um der Situation ein Ereignis abzugewinnen, um ein Kunstwerk entstehen zu lassen und dabei die eigene Integrität gewahrt zu wissen, sind hier beide Seiten aufeinander angewiesen. Gängige Machismen, etwa vom starken Mann, vom Jäger, der seine Beute – die objektifizierte Frau – unterwirft, erübrigen sich dabei. Gleichzeitig sollen aber die Phantasien der Männer nicht etwa bloßgestellt werden. Die klassische Dichotomie von männlicher und weiblicher Lust weicht einem Dritten. Die Vorstellung von Dominanz und Macht löst sich auf in einer spielerischen Symbiose. Die Künstlerinnen befreien die Männer gleichsam von der Last ihrer eigenen Klischees und öffnen ihnen die Tür zu einer machtbefreiten Lust.
In diesem Sinne repräsentieren die Women in the Forest einen Anti-Newton.
Helmut Newton, der fotografische Kronzeuge des ›male gaze‹, bringt im Blick der Kamera, in der Inszenierung der Körper sowie durch die Körper selbst, stets Macht zur Schau. Im Gegensatz dazu inszenieren die Bilder von Koeke und Pale einen machtfreien Raum: normative Zuschreibungen von Körper, Geschlecht und Lust sind hier ausgehebelt. Gerade darin liegt das eigentliche utopische Potenzial dieser Fotografien.
Lust kann hier auch als kleinste Einheit menschlicher Interaktion verstanden werden. Und die Women in the Forest fügen dieser Interaktion eine neue, buchstäbliche »Spiel-Art« hinzu. Es entsteht die Phantasie von menschlichen und letztlich gesellschaftlichen Beziehungen, die sich nicht über Macht, sondern über das Gemeinsame definieren.
Es ist daher an der Zeit, diese Fotografien aus dem Wald heraus und hinein zu holen in die Regierungsgebäude, Chefetagen, Vor- und Hinterzimmer sowie die groß- und kleinbürgerlichen Wohnzimmer. Diese Werke aus dem Wald setzen mit spielerischer Leichtigkeit und erotischer Poesie die Kettensäge an jenen Ast, auf dem die alte Macht sitzt.
Willkommen im wilden Wald
Ich habe die Theorie, dass »Alice im Wunderland« niemals als ein literarisches Meisterwerk anerkannt worden wäre – weil es trotz aller absurden Ideen und logischer Rätsel ganz schön dröge zu lesen ist – wenn da nicht die Bilder gewesen wären, diese Bilder von einem Mädchen mit aufgelösten Haaren und ekstatischen Augen, das einem Kuschelhäschen durch ein Loch folgt. Pun intended!
John Tenniels Illustrationen sprechen eine andere Sprache als Lewis Carolls Roman. Wir folgen dieser Alice ins Wunderland, weil wir sie verführerisch finden, aber vor allem, weil wir uns mit ihr identifizieren und uns in diesem Identifikationsprozess selbst erotisch finden.
Seit geraumer Zeit interessiere ich mich für die Metatexte, die die Illustrationen in Büchern erzählen als eine parallele, leicht verschobene Version des Ursprungstexts. So bin ich zum Beispiel ein großer Fan von Stuart Tresilian, der als Illustrator von Rudyard Kipling und Enid Blyton berühmt wurde. Seine Interpretationen der »Abenteuer-Serie« von Blyton – vier Kinder und ein Papagei, nicht zu verwechseln mit den »Fünf Freunde« (vier Kinder und ein Hund) – haben meine Kindheit tief geprägt. An einer Stelle tauchen die Abenteuer-Kids nach geschmuggelten Waffen und ihre hinter ihnen durch das Wasser schwebenden Haare vermittelten mir die plötzliche und umfassende Erkenntnis, dass Schwimmen und Fliegen das gleiche ist, nur in einem anderen Element.
Jedes Bild ist mehr als das, was es bezeichnet, es hat ein doppeltes Leben wie Alices Welt hinter dem Spiegel. Was eine ziemlich gute Beschreibung der Funktion von Kunst ist. Bilder sind das, was sie abbilden, aber sie sind immer noch mehr, sie sind alle möglichen Zukünfte, die sich aus der dargestellten Situation ergeben ebenso wie alle Vergangenheiten, Zeit fächert sich auf. In dieser Potentialität erleben die überraschend erwachsen aussehenden Alices, Lucys, Dinas, Marys nicht nur Abenteuer, sondern sexuelle Abenteuer. Und ja, es ist ein Problem, dass sie alle weiß sind und auch wie die nicht-weißen Figuren, sogar Mowgli, der ja der Held der »Dschungelbücher« ist, dargestellt werden, doch das ist ein anderes Thema für einen anderen Text.
Hier geht es um das normüberschreitende Potential der Illustrationen, das den Zustand des Mädchen-Seins als Außerhalb-der-Gendergrenzen-Seins interpretiert und entsprechend nicht als Infantilisierung, sondern als Entfesselung: Diese Mädchen sind unberechenbar und wild, wo ihre erwachsene Inkarnation zivilisiert sein müsste. Sie sind anarchistische Versionen ihrer selbst und so reagiert ihre Umgebung auch so auf sie.
Und damit wären wir bei den Grimm’schen Märchen, die zu lesen eine Zumutung ist. Vor allem als Kind. Weshalb es ein Unding ist, dass sie noch immer im Lehrplan der Grundschulen stehen. Nach dem Motto: Das sind Märchen, also ist das altersgerecht. Habt ihr euch den Mist einmal durchgelesen?
Aber die Bilder!
Und vor allem die Bilder, die wir in unseren Köpfen ergänzen.
Rotkäppchen, die unter ihren Mantel hervorlugt wie die Klitoris unter ihrer Kapuze. Kein Wunder, dass der Wolf so große Augen hat. Im Dickicht des Märchenwaldes kommen noch mehr Gestalten vom graden Weg ab. Wie Hänsel und Gretel, die wir von hinten sehen, winzig unter den riesigen Bäumen, die sich zu ihnen herabneigen. Sie halten sich an den Händen, die Schultern hochgezogen, als hätten sie ein schlechtes Gewissen, dass sie immer tiefer in den verbotenen Wald eindringen, dass sie einer Spur aus Brotkrumen folgen – denn die Bilder kehren die Zeit um, hier sind die Brotkrumen ausgestreut, bevor die Kinder sich verlaufen, hier ist das Hexenhaus ursprünglicher als das Elternhaus, und bevor wir uns versehen wird es zum allerersten Ort, einer großen, warmen Gebärmutter, bestehen seine Wände doch wie die Plazenta aus Nahrung und im Zentrum steht der Ofen...
Die Bilder von Hexen und wilden Frauen, in deren Fußabdrücken Blumen erblühen, von Häusern, die auf Hühnerbeine wandern, eröffnen eine Wirklichkeit jenseits der symbolischen aber auch jenseits der sexuellen Ordnung. Wenn ich eines vom Poststrukturalismus gelernt habe, dann dass diese beiden Begriffe gerne synonym verwendet werden. Also mache ich das auch. Was Lacan kann, kann ich schon lange.
Das ist das Wunderbare an Bildern, dass sie nicht auf eine Geschichte festgeschrieben sind und mehr Ambiguitäten eröffnen als Texte. Ich will hier gar nicht erst von Archetypen anfangen. Und habe das damit natürlich doch getan. Also: consider it done.
Um den Monotheismus zu etablieren, brauchte es die Schrift, die die eine Geschichte des einen Gottes erzählte, der die Welt und alles auf ihr nur mit Hilfe des Wortes erschaffen hat. Mit Hilfe des geschriebenen Wortes. Nicht umsonst sind die großen monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum, Islam – Buchreligionen. Wo der Sound des gesprochenen Wortes flexibel und vergänglich ist, und immer wieder neu gesprochen und dabei verändert werden muss – proklamieren Buchstaben DIE WAHRHEIT. Worte brauchen einen Körper, Alphabetschriften brauchen Bücher – analoge oder digitale Textträger. Doch auch das frommste Buch kommt nicht ohne Illustrationen aus, ohne Verzierungen, ohne die Kunst der Typographie. Und sogar, wenn es keine Bilder im Text gibt, kommt kaum ein Buch ohne ein Titelbild aus. Und Bilder sind immer ambig.
Und verführerisch.
Bilder verführen, wenn nicht durch ihre Schönheit, dann durch die Irritationen, die sie auslösen. Durch die Leerstellen, die wir füllen müssen. Während die Prinzessinnen in den Grimm’schen Märchen größtenteils passiv sind und auf den Märchenprinzen warten müssen, der sie rettet, winden sie sich ins Zentrum der Illustrationen. Sie hüllen sich in Tierhäute (»Allerleirauh«), sprechen mit Brennesseln (»Jungfrau Maleen«) oder abgeschlagenen Pferdeköpfen (»Die Gänsemagd«) und überall warten Spindeln, magische Früchte und Hexenkessel auf sie.
Doch vor allem gehen sie in den Wald, den wilden, wilden Wald. Bereits das Wort Hexe kommt von dem althochdeutschen ›hagzissa‹, ›hag‹ bedeutet Wald oder Hecke und ›tysha‹ Elfe oder Geist, eine ›hayzissa‹ ist also eine Waldfee. Dieser Wald ist kein Garten oder eine kultivierte Plantage, sondern ein Reich jenseits der menschlichen Regeln und Gesetze, wo die Grenzen der Spezies überschritten werden, Menschen sich in Tiere verwandeln und Bäume Augen bekommen und die Lesenden anschauen. Das verbindet sie mit den Mythen, tatsächlich werden Märchen manchmal als Kryptomythen gedeutet. In dem finnischen Nationalepos »Kalevala« etwa spricht die Preiselbeere zu Marjatta und als Marjatta daraufhin die Beere isst, wird sie schwanger und gebärt den König der Wälder: Interspezies-Kommunikation, -Sex und -Reproduktion vom Feinsten.
Deshalb ist es nur folgerichtig, dass Mimosa Pale und Justyna Koeke auch in den Wald gehen, der hier Zauberwald und Ökotop in einem ist. Projektionsfläche für Wünsche und Ängste – denn im Wald da sind die Räuber / Hexen / Wichtel / Beeren / Stock & Stein & Birkenzweige für die Sauna. Der Wald ist ein unendliches Reservoir von Nahrung für Körper und Phantasie. Pale und Koeke greifen all diese Aspekte mit einer Leichtigkeit auf und vermischen sie zu einen Zaubertrank aus Heimeligem und Unheimlichem, Bekanntem und mehr als Bekannten. Fliegenpilzen und Tinderverabredungen. Also vielleicht eher ein Liebestrank? Let’s talk about sex(ual phantasies)!
Hier wird der Subtext zum Haupttext. Hier wird das Implizite der Bilder zum Expliziten. Und hier wird es spannend, im Sinne von aufregend und angespannt gleichermaßen. Denn sexuelle Phantasien sind ja etwas, was normalerweise in den Bereich des Semiotischen abgeschoben wird. Sprich: Wir sprechen nicht darüber. Und warum sprechen wir so selten über unsere sexuellen Phantasien? Noch nicht einmal mit den Menschen, mit denen wir ein Sexualleben teilen? Denn natürlich haben wir sexuelle Phantasien. Schließlich onanieren wir ja. Erregung ist eine Geschichte, eine Geschichte erzählt in Bildern.
Die Antwort ist: Weil wir keine Sprache dafür haben. Berichtigung: Ganz viele Leute haben ganz viel Sprache dafür. Aber wir haben keine Sprache, die Teil unseres Alltags ist und die wir lernen, wie wir es lernen über andere physische und psychische Sensationen zu sprechen, oder poetischer: leibliche und seelische Sensationen. Also bedienen sich Justyna Koeke und Mimosa Pale der Sprache des Waldes als mythischer Resonanzraum und Nährboden.
Also gehen sie in den Zauberwald, ich weiß, ich wiederhole mich, aber nur, weil ich möchte, dass wir alle in diesen Wald gehen und das Gestrüpp durchdringen. Es trennt uns keine Dornenhecke und kein Fluch vom Ausdrücken unserer Phantasien, nichts außer gesellschaftliche Normen. Und der Angst, dann nicht mehr geliebt zu werden, natürlich.
Dieses Inszenieren von Lust, das Ausstellen von Libido, das selbstbewusste Statement: Ich will ... etwas, ich bin eine Frau, also ein Mensch mit sexuellen Wünschen und Bedürfnissen – ist umso überwältigender, weil die Narrative über Frauen und Sexualität sich zur Zeit auf den Aspekt der Gefahr konzentrieren. So werden in der längst überfälligen #metoo-Debatte sexuelle Grenzüberschreitungen sehr viel breiter von den Medien – und ich darf das sagen, weil ich ja Teil der Medien bin und will, dass wir unseren Job besser machen – diskutiert als beispielsweise Konsens. Dabei gehört zu Prävention nicht nur Gefahrvermeidung, sondern auch die Möglichkeit die eigene Sexualität selbstbestimmt zu gestalten. Und darüber wird, wenn schon nicht geschwiegen, dann doch deutlich nicht genug gesprochen.
Vor kurzem machte der britische Podcast »The Guilty Feminist« einen interessanten Vorschlag: Da sich nur Frauen mit vollem Bankkonto frei entscheiden könnten, ob sie sexuelle Akte vollziehen wollten oder nicht, sollten auch nur reiche Frauen diese Entscheidung treffen dürfen – schließlich kann man bei allen anderen nicht sicherstellen, dass sie das nicht unter Druck tun. Das Interessanteste an diesem Vorschlag war, dass er nicht als Provokation, (die er zweifellos war), aufgenommen wurde, sondern lediglich als Hinweis, (der er selbstredend auch war), darauf, dass Diskriminierung zwar mit Geschlecht aber vor allem mit den Mechanismen des Marktes zu tun hat. Wie konnte ein feministisches Publikum so blind dafür sein, dass hier Frauen zu ihrem eigenen Schutz entmündigt wurden?
Doch damit sind sie nicht allein. So sperrt Facebook routinemäßig Profile von Userinnen, die zu freizügige Bilder von sich selbst posten, und zwar nicht, weil das als anstößig betrachtet wird, sondern um sie vor Sexismus zu bewahren. Mit ähnlicher Motivation installieren Mail-Provider schon mal Filter, die Worte wie Vulva, Vagina oder Brüste blockieren. Da Körperteile nicht à priori sexistisch sind, ist es aussagekräftig, dass die sozialen Medien damit vordringlich Beglotzen, Begrapschen und Belästigen verbinden, anstatt Menschen, die eben jene Körperteile selbstbestimmt präsentieren, genießen oder damit Babys stillen.
Nun hat es eine Geschichte, dass wir bei nackten weiblichen Körpern als erstes an (gegen ihren Willen) entblößt denken, und bei nackten männlichen Körpern an Exhibitionismus, und bei nicht eindeutig zuordenbaren Körpern einen hysterischen Schluckauf bekommen. Es ist die selbe Historie, die dazu führt, dass wir – und damit meine ich Facebook und Instagram und das Gros der Medienberichterstattung und Ratgeber und ... und ... und ... – den Bereich der Sexualität in eine männliche und eine weibliche Sphäre teilen, und nebenbei so tun, als gäbe es nur heterosexuelle Sexualität. Wir sind ja nicht individuell sexistisch, sondern wir haben diesen Blick auf (sexuelle) Geschlechterrollen über Generationen gelernt.
Und das sexistische sexuelle Wissen geht so: Auf der einen Seite stehen ›die Männer‹, die immer den ersten Schritt machen müssen und damit als einzige Gefahr laufen, eine Grenze zu überschreiten – oder die narzisstische Kränkung zu erleben, abgelehnt zu werden – und niemals (oder nur selten) die Erfahrung machen können, selbst (ungewollt) angemacht zu werden.
Auf der anderen Seite sitzen ›die Frauen‹, die Nein-Sagen lernen sollen und non-verbale Signale senden und darauf warten müssen, dass der Richtige – das heißt, der, den sie selbst ansprechen würden, wenn sie denn dürften/könnten – sie anspricht. Egal ob dieser ›er‹ eine ›sie‹ ist oder non-binär. Es geht hier um Geschlechterrollen, die wir so verinnerlicht haben, dass sie uns in Fleisch und Blut übergegangen sind.
Keine der beiden Seiten hat nach diesen Regeln die Möglichkeit zu erfahren, wie es sich auf der anderen Seite des Genderabgrunds anfühlt. Und das ist ein Problem. Aber lasst uns bei ›den Frauen‹ bleiben. Indem sie ihr eigenes Begehren nicht zeigen dürfen, müssen sie nicht die Konsequenzen davon tragen. Denn mit dem Sichtbarwerden geht immer auch die Gefahr einher, das Begehrte nicht zu erlangen und zurückgewiesen zu werden. Soweit so gut. Oder besser gesagt: Soweit so schlecht. Denn durch Fragen und Zurückgewiesen-Werden lernen wir, dass unser Wert nicht (ausschließlich) von anderen abhängt. Das ist eine so zentrale Erfahrung, weil das nicht bedeutet, dass wir weniger begehrenswert sind, weniger liebenswert, ja schlicht weniger wert als zuvor – sondern nur dass diese Person keinen Sex mit uns will. Und das war’s. Die Welt hängt noch in ihren Angeln, oder wo auch immer sie hängt.
Ich bin noch nie zurückgewiesen worden. Nicht weil ich so unwiderstehlich bin, sondern weil ich eine Cis-Frau bin und deshalb noch nie den ersten Schritt machen musste.
Wie sollen Frauen lernen, sich um etwas – einen Kuss, Geschlechtsverkehr, einen Blow Job, einen Job, eine Gehaltserhöhung, eine Beförderung – zu bemühen und wenn sie das nicht bekommen, sich halt um etwas anderes zu bemühen – wenn sie das nicht im sicheren Rahmen von sexuellen Begegnungen trainieren?
Als ich diesen Text den Künstlerinnen vorlegte, wandte Mimosa Pale ein, dass das nicht ihrer Lebenswirklichkeit entspricht. In ihrem Mutterland Finnland seien die Frauen und die Gleichstellung so stark, dass ohne die aktive Frau da gar nichts geschieht. Es bewegt sich also etwas. Doch auch sie ist ständig mit dem Narrativ konfrontiert, dass eine sexuell selbstbewusste Frau einen Mann abschrecke. Konjunktiv. Als wollten Männer nur Sex mit Frauen, die kein Interesse an ihnen haben. Noch einmal Konjunktiv. Warum halten sich diese Geschichten so hartnäckig?
Merke: Sexuelle Potenz und Macht sind Bettgefährten. Deshalb ist es so wichtig, dass wir – nicht nur, aber definitiv auch – über die sexuelle Potenz von Frauen sprechen. Nicht als Alternative zu wirtschaftlicher und kultureller Macht, sondern als Bestandteil derselben. Wie bereits Lacan erkannte, »was dich anmacht, gibt dir Macht.«
Doch wie sollen wir herausfinden, was uns anmacht, wenn wir es nicht ausdrücken, ausprobieren, performen dürfen? Wenn jeder Dating-Ratgeber in jeder »Frauenzeitschrift« uns rät: Gehen Sie nicht auf einen Mann zu, zeigen Sie nicht, dass sie (an ihm, an Sex) interessiert sind – sonst schlagen sie ihn in die Flucht. Immer mehr Menschen – und nicht nur Frauen – lernen nicht herauszufinden, was sie erregt, was sie wollen, was sie wollen könnten. Nein sagen hilft uns hier nicht weiter. Wir müssen auch lernen Ja zu sagen.
»Wir sagen immer, dass wir unserem Partner vertrauen wollen. Und meinen damit: Ich möchte meinem Gegenüber trauen, nichts zu machen, was ich nicht will.« erklärt die Sexologin Betty Martin, die das Wheel of Consent entwickelt hat, um Menschen ein Tool zu geben, über Konsens zu kommunizieren. »Das Problem mit diesem Wunsch ist, dass er unmöglich ist. Eine andere Person kann nicht in jedem Moment wissen, wie ich berührt werden möchte.«
Doch sobald es um Sex geht, wird Kommunikation klein und Gedankenlesen groß geschrieben. Anstatt, Sex als Kommunikation wahrzunehmen, lernen wir, dass zu viel Sprechen die Erregung tötet. Tatsächlich? Und wenn ich ein Flugzeug fliegen will, frage ich auch vorher nicht nach, weil das das spontane Gefühl den Boden unter den Füßen zu verlieren tötet? Nebenbei, geht es bei Sex ja auch nicht nur darum: Willst du das? Ja oder nein? Sondern dass wir über unsere Wünsche sprechen, über unsere Phantasien, dass wir zusammen erkunden, was uns anmacht. Sex ist ein Gespräch und nicht nur eine Frage und eine Antwort. Und dieses Gespräch beginnt mit uns selbst. Und es beginnt mit Bildern, Images und Imaginationen.
Wenn dies ein Radiofeature wäre, würde ich an dieser Stelle das Knacken von Ästen einblenden und hinter Justyna Koeke und Mimosa Pale durch den Wald gehen, würde mir ebenfalls die Kleider abstreifen und mich mit ihnen in den klaren, kalten See gleiten lassen, der im Moment der Berührung zu einem Spiegel wird. »Wenn ich schwimmen kann, kann ich dem Wasser vertrauen. Aber, wenn ich nicht schwimmen kann, kann ich dem Wasser noch so sehr vertrauen, ich werde trotzdem untergehen«, sagt Betty Martins Stimme wie ein Voiceover. »Das ist bei Sexualität nicht anders. Wenn ich meine eigenen Bedürfnisse und Grenzen kenne und weiß, dass ich ein Recht darauf habe, kann ich mir selbst vertrauen. Wenn ich jedoch nicht darüber sprechen kann, werde ich mich immer ausgeliefert fühlen.«
Das ist das explosive Potential dieser Bilder: dass sie so bekannt wie unerhört sind, so nahe und vertraut wie grenzüberschreitend, die Pilze, die aus Pos wachsen, die Körperteile, die sich in die Vegetation einfügen, als hätte ein Baum halt einen Fuß oder einen Arm, die Heide halt eine Klitoris. Wonach jagen diese Hexen mit ihren wirren Haaren und den auf Ästen aufgespießten Würsten? Die Beute findet sich auf einem weiteren Bild. Diese Bilder sind humorvoll und spielerisch, zärtlich und kühn und dabei immer, immer ermächtigend. Oder mit den Worten Betty Martins: »Die schlimmste Entmächtigung ist, nicht zu wissen, wie viel Macht wir in Wirklichkeit haben.«
Ich schaue diese Fotos an und sie legen sich wie eine Folie auf meinen eigenen Körper, und ich will mich sofort ebenfalls ausziehen und meine Brustwarzen durch Kohlblätter blitzen lassen. Ich will die Adern in den Blättern fühlen und die Feuchtigkeit der Erde, auf der ich liege. Ich will, oh ich will wieder Menschen umarmen, aber auch und besonders Bäume. Und das ist vielleicht der wichtigste Grund, warum ich die Arbeit von Pale und Koeke so schätze, weil ich davon überzeugt bin, dass wir alle viel mehr Bäume umarmen sollten.
Let me explain!
Wir wachsen mit dem Narrativ auf, dass Menschen getrennt sind: von einander und von der Welt um uns herum. Und ich glaube, dass hier die Ursache für einen großen Teil der Probleme liegt, mit denen wir uns zur Zeit herumschlagen. Wenn wir uns als getrennt von der Natur wahrnehmen, können wir nicht in bedeutungsvoller Form mit ihr interagieren. Wir können nicht auf Augenhöhe mit ihr kommunizieren. Was wir können, ist die Umwelt auszubeuten oder sie zu retten. Aber nicht konsensuell voneinander und miteinander leben. Deshalb plädieren die Performancekünstlerinnen und Sexökologinnen Annie Sprinkle und Beth Stephens dafür, das Paradigma zu ändern: »From earth as mother to earth as lover!«
Die Professorin für Umweltwissenschaften und Direktorin des Center for Native Peoples and the Environment Robin Wall Kimmerer erinnert uns daran, dass in einigen Ländern die Rechte von allen Spezien in der Verfassung festgeschrieben sind, weil sie als Persönlichkeiten anerkannt werden, während in den USA und auch in Europa Firmen mehr und mehr dieser Rechte haben und nicht Pflanzen, Flüsse und Berge. »Wie wir uns unsere Beziehung zu der lebendigen Welt um uns herum vorstellen, ist zentral. Das durchschnittliche amerikanische Kind kennt die Namen von mehr als 100 Firmenlogos, aber nur von 10 Pflanzen.« Das ist ein Problem, weil Menschen nur erkennen können, was wir bereits kennen. Wenn wir eine Pflanze nicht kennen, sehen wir sie im wahrsten Sinne des Wortes nicht. Der Fachbegriff dafür ist: nature blindness oder plant blindness. Je weniger Namen wir für die belebte Welt um uns herum haben, desto weniger lernen wir sie wertzuschätzen. »Es ist nicht die Umwelt, die zerstört ist. Es ist unser Verhältnis zu der Umwelt das zerstört ist«, schließt Kimmerer.
Die Folgen sind unübersehbar. Nicht nur in der äußeren Welt, sondern auch in der Inneren. Die Psychologie hat inzwischen erkannt, dass Menschen, die sich mit der Natur verbunden fühlen, auch besser in der Lage sind, Bindungen mit anderen Menschen – und sich selbst – zu fühlen. Natürlich ist Sinnlichkeit nicht der einzige Weg, unsere Verbindung mit Bäumen und Sträuchern und Beeren zu spüren. Aber sie ist ein sehr direkter Weg. Liebe deinen Baum wie dich selbst. Sexuelle Energie ist das, was uns mit der Welt verbindet. Sie ist das, was uns menschlich macht und mehr als nur menschlich. Jede Pflanze hat ihre Reproduktionsorgane – was für ein Wort! – ihre sexuellen Fühler und Sinne, ihre Möglichkeiten erotisch zu kommunizieren. Unser Bedürfnis nach Sexualität verbindet uns mit allem Leben. Und ja, auch Steine haben Sex. Fragt mich nicht wie, ich weiß es einfach.
Es verbindet uns mit allem.
Sex ist so viel mehr als nur sexy. Sex ist kommunikativ und transformativ. Sex bedeutet zu erkennen, dass wir und alle(s) um uns herum beseelt ist.
Folgen Sie Mimosa Pale und Justyna Koeke in den Wald.
Lassen Sie sich und die Welt verzaubern!
Mithu Sanyal
Ein Phantasieraum aus Wald und Körper
Was treiben die Frauen im Wald? Der Topos von Weiblichkeit und Natur zieht sich durch Mythologie und Kulturgeschichte. Nicht selten wird er sexuell aufgeladen und – wie so oft, wenn es um weibliche Lust gehen könnte - mit düsteren Assoziationen verknüpft. Mit Hexen etwa, die männermordend und babyfressend im Walde ihr Unwesen treiben. Oder mit den schwindsüchtigen Protagonistinnen der Romantik, die in wallenden weißen Gewändern in Wäldern schöne Leichen abgeben. Eine dringend überfällige, zeitgenössische Aktualisierung dieses Topos liefern Justyna Koeke und Mimosa Pale mit ihrem crossmedialen Kunstwerk Women in the Forest.
Zu sehen sind fotografische Lustspiele, die den Wald zum Schau- und Spielplatz einer Befreiung machen. Frauen und Männer entledigen sich hier gleichermaßen der ihnen zugewiesenen Klischees von Begehren. Dabei werden nicht nur kulturelle Stereotype überschrieben, es geht um mehr: Mit spielerischer Leichtigkeit evozieren diese Bilder ein neues Verständnis von Macht – eines, das gerade in der Aufhebung von Macht besteht. Aber der Reihe nach:
Für die Untersuchung und Befreiung der Lust zog es Justyna Koeke und Mimosa Pale buchstäblich ins Offene. Die Natur fungierte als wesentlicher Impulsgeber in ihrem Prozess. Die entstandenen Fotografien zeigen eine direkte Auseinandersetzung mit ihr, vielmehr noch: ein »Sich-Aussetzen« mit Haut und Haar. Nackte Körper treffen auf Pflanzen, Früchte, Erde, Stein oder Schnee.
Doch den Künstlerinnen ging es nicht bloß darum, eigene Lustvorstellungen zu inszenieren. Über die digitale Plattform Tinder suchten sie Partner für ein »künstlerisches Abenteuer« und luden zu Dates tief in den Wald. Tatsächlich mögen die männlichen Kooperateure, die dem digitalen Ruf der beiden Künstlerinnen gefolgt waren, an Hexen gedacht haben, als sie von den zwei Frauen am Wegesrand empfangen wurden. Die eine nackt, bis auf einen Wollpulli, die andere in einem rosa Morgenmantel, in der Hand eine Kettensäge. Doch die Männer waren nicht in einen Hinterhalt radikalisierter Feministinnen geraten, sondern in eine individuelle Performance.
Das Setup des Blinddates im Wald provozierte einen Zustand gegenseitiger Fragilität, fern von normativer Kontrolle sowie unmittelbarem Schutz: Die Männer, die kamen, lieferten sich einer unbekannten Situation aus, die Frauen lieferten sich den unbekannten Personen und deren Erwartungen aus. Und genau dies ist der Stoff, aus dem die Fotografien Women in the Forest gemacht sind: Erwartungen, Träume und Stereotype treffen auf den Freiraum der Natur und werden durch diese unmittelbare Situation transformiert. Eine Transformation, die von den Besuchern ebenso gestaltet wird, wie von den Künstlerinnen und die hier im Wald, frei von Scham oder Bewertung, erst einmal entstehen und sich entfalten darf. So öffnet sich ein neuer, gemeinsamer Phantasieraum – ein Phantasiekörper aus Mensch und Wald.
Women in the Forest ist daher genuin als crossmediales Kunstwerk zu denken: Aus der Kommunikation auf einer digitalen Plattform wird eine interaktive, individuelle Performance, die skulptural Natur und Körper verbindet, um sich schließlich wieder in digitalen Fotoarbeiten niederzuschlagen.
Die so entstandenen Bilder sind keine dokumentarischen Naturfotografien. Sie offenbaren sich selbst als Inszenierungen, künstliche Interventionen ins Ursprüngliche. Licht, Kadrage und Pose verraten das Menschliche im Natürlichen. Die Bilder versprühen Leichtigkeit, sind mal ironisch, mal erotisch und laden nicht nur dazu ein, eigene Vorstellungen von Begehren und Sinnlichkeit zu erweitern, sondern vor allem dazu, die kulturell reproduzierten Topoi von Lust zu revidieren.
Bei Women in the Forest geht es um Interaktion und Kommunikation. Das gegenseitige »Sich-Ausliefern« ist dabei zentral. Dadurch, dass sowohl die Performerinnen, als auch die Teilnehmer sich selbst und ihre Phantasien dem Kunstwerk ausliefern, entsteht eine gegenseitige Abhängigkeit, mehr noch – eine notwendige Verbundenheit. Um der Situation ein Ereignis abzugewinnen, um ein Kunstwerk entstehen zu lassen und dabei die eigene Integrität gewahrt zu wissen, sind hier beide Seiten aufeinander angewiesen. Gängige Machismen, etwa vom starken Mann, vom Jäger, der seine Beute – die objektifizierte Frau – unterwirft, erübrigen sich dabei. Gleichzeitig sollen aber die Phantasien der Männer nicht etwa bloßgestellt werden. Die klassische Dichotomie von männlicher und weiblicher Lust weicht einem Dritten. Die Vorstellung von Dominanz und Macht löst sich auf in einer spielerischen Symbiose. Die Künstlerinnen befreien die Männer gleichsam von der Last ihrer eigenen Klischees und öffnen ihnen die Tür zu einer machtbefreiten Lust.
In diesem Sinne repräsentieren die Women in the Forest einen Anti-Newton.
Helmut Newton, der fotografische Kronzeuge des ›male gaze‹, bringt im Blick der Kamera, in der Inszenierung der Körper sowie durch die Körper selbst, stets Macht zur Schau. Im Gegensatz dazu inszenieren die Bilder von Koeke und Pale einen machtfreien Raum: normative Zuschreibungen von Körper, Geschlecht und Lust sind hier ausgehebelt. Gerade darin liegt das eigentliche utopische Potenzial dieser Fotografien.
Lust kann hier auch als kleinste Einheit menschlicher Interaktion verstanden werden. Und die Women in the Forest fügen dieser Interaktion eine neue, buchstäbliche »Spiel-Art« hinzu. Es entsteht die Phantasie von menschlichen und letztlich gesellschaftlichen Beziehungen, die sich nicht über Macht, sondern über das Gemeinsame definieren.
Es ist daher an der Zeit, diese Fotografien aus dem Wald heraus und hinein zu holen in die Regierungsgebäude, Chefetagen, Vor- und Hinterzimmer sowie die groß- und kleinbürgerlichen Wohnzimmer. Diese Werke aus dem Wald setzen mit spielerischer Leichtigkeit und erotischer Poesie die Kettensäge an jenen Ast, auf dem die alte Macht sitzt.
Willkommen im wilden Wald
Ich habe die Theorie, dass »Alice im Wunderland« niemals als ein literarisches Meisterwerk anerkannt worden wäre – weil es trotz aller absurden Ideen und logischer Rätsel ganz schön dröge zu lesen ist – wenn da nicht die Bilder gewesen wären, diese Bilder von einem Mädchen mit aufgelösten Haaren und ekstatischen Augen, das einem Kuschelhäschen durch ein Loch folgt. Pun intended!
John Tenniels Illustrationen sprechen eine andere Sprache als Lewis Carolls Roman. Wir folgen dieser Alice ins Wunderland, weil wir sie verführerisch finden, aber vor allem, weil wir uns mit ihr identifizieren und uns in diesem Identifikationsprozess selbst erotisch finden.
Seit geraumer Zeit interessiere ich mich für die Metatexte, die die Illustrationen in Büchern erzählen als eine parallele, leicht verschobene Version des Ursprungstexts. So bin ich zum Beispiel ein großer Fan von Stuart Tresilian, der als Illustrator von Rudyard Kipling und Enid Blyton berühmt wurde. Seine Interpretationen der »Abenteuer-Serie« von Blyton – vier Kinder und ein Papagei, nicht zu verwechseln mit den »Fünf Freunde« (vier Kinder und ein Hund) – haben meine Kindheit tief geprägt. An einer Stelle tauchen die Abenteuer-Kids nach geschmuggelten Waffen und ihre hinter ihnen durch das Wasser schwebenden Haare vermittelten mir die plötzliche und umfassende Erkenntnis, dass Schwimmen und Fliegen das gleiche ist, nur in einem anderen Element.
Jedes Bild ist mehr als das, was es bezeichnet, es hat ein doppeltes Leben wie Alices Welt hinter dem Spiegel. Was eine ziemlich gute Beschreibung der Funktion von Kunst ist. Bilder sind das, was sie abbilden, aber sie sind immer noch mehr, sie sind alle möglichen Zukünfte, die sich aus der dargestellten Situation ergeben ebenso wie alle Vergangenheiten, Zeit fächert sich auf. In dieser Potentialität erleben die überraschend erwachsen aussehenden Alices, Lucys, Dinas, Marys nicht nur Abenteuer, sondern sexuelle Abenteuer. Und ja, es ist ein Problem, dass sie alle weiß sind und auch wie die nicht-weißen Figuren, sogar Mowgli, der ja der Held der »Dschungelbücher« ist, dargestellt werden, doch das ist ein anderes Thema für einen anderen Text.
Hier geht es um das normüberschreitende Potential der Illustrationen, das den Zustand des Mädchen-Seins als Außerhalb-der-Gendergrenzen-Seins interpretiert und entsprechend nicht als Infantilisierung, sondern als Entfesselung: Diese Mädchen sind unberechenbar und wild, wo ihre erwachsene Inkarnation zivilisiert sein müsste. Sie sind anarchistische Versionen ihrer selbst und so reagiert ihre Umgebung auch so auf sie.
Und damit wären wir bei den Grimm’schen Märchen, die zu lesen eine Zumutung ist. Vor allem als Kind. Weshalb es ein Unding ist, dass sie noch immer im Lehrplan der Grundschulen stehen. Nach dem Motto: Das sind Märchen, also ist das altersgerecht. Habt ihr euch den Mist einmal durchgelesen?
Aber die Bilder!
Und vor allem die Bilder, die wir in unseren Köpfen ergänzen.
Rotkäppchen, die unter ihren Mantel hervorlugt wie die Klitoris unter ihrer Kapuze. Kein Wunder, dass der Wolf so große Augen hat. Im Dickicht des Märchenwaldes kommen noch mehr Gestalten vom graden Weg ab. Wie Hänsel und Gretel, die wir von hinten sehen, winzig unter den riesigen Bäumen, die sich zu ihnen herabneigen. Sie halten sich an den Händen, die Schultern hochgezogen, als hätten sie ein schlechtes Gewissen, dass sie immer tiefer in den verbotenen Wald eindringen, dass sie einer Spur aus Brotkrumen folgen – denn die Bilder kehren die Zeit um, hier sind die Brotkrumen ausgestreut, bevor die Kinder sich verlaufen, hier ist das Hexenhaus ursprünglicher als das Elternhaus, und bevor wir uns versehen wird es zum allerersten Ort, einer großen, warmen Gebärmutter, bestehen seine Wände doch wie die Plazenta aus Nahrung und im Zentrum steht der Ofen...
Die Bilder von Hexen und wilden Frauen, in deren Fußabdrücken Blumen erblühen, von Häusern, die auf Hühnerbeine wandern, eröffnen eine Wirklichkeit jenseits der symbolischen aber auch jenseits der sexuellen Ordnung. Wenn ich eines vom Poststrukturalismus gelernt habe, dann dass diese beiden Begriffe gerne synonym verwendet werden. Also mache ich das auch. Was Lacan kann, kann ich schon lange.
Das ist das Wunderbare an Bildern, dass sie nicht auf eine Geschichte festgeschrieben sind und mehr Ambiguitäten eröffnen als Texte. Ich will hier gar nicht erst von Archetypen anfangen. Und habe das damit natürlich doch getan. Also: consider it done.
Um den Monotheismus zu etablieren, brauchte es die Schrift, die die eine Geschichte des einen Gottes erzählte, der die Welt und alles auf ihr nur mit Hilfe des Wortes erschaffen hat. Mit Hilfe des geschriebenen Wortes. Nicht umsonst sind die großen monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum, Islam – Buchreligionen. Wo der Sound des gesprochenen Wortes flexibel und vergänglich ist, und immer wieder neu gesprochen und dabei verändert werden muss – proklamieren Buchstaben DIE WAHRHEIT. Worte brauchen einen Körper, Alphabetschriften brauchen Bücher – analoge oder digitale Textträger. Doch auch das frommste Buch kommt nicht ohne Illustrationen aus, ohne Verzierungen, ohne die Kunst der Typographie. Und sogar, wenn es keine Bilder im Text gibt, kommt kaum ein Buch ohne ein Titelbild aus. Und Bilder sind immer ambig.
Und verführerisch.
Bilder verführen, wenn nicht durch ihre Schönheit, dann durch die Irritationen, die sie auslösen. Durch die Leerstellen, die wir füllen müssen. Während die Prinzessinnen in den Grimm’schen Märchen größtenteils passiv sind und auf den Märchenprinzen warten müssen, der sie rettet, winden sie sich ins Zentrum der Illustrationen. Sie hüllen sich in Tierhäute (»Allerleirauh«), sprechen mit Brennesseln (»Jungfrau Maleen«) oder abgeschlagenen Pferdeköpfen (»Die Gänsemagd«) und überall warten Spindeln, magische Früchte und Hexenkessel auf sie.
Doch vor allem gehen sie in den Wald, den wilden, wilden Wald. Bereits das Wort Hexe kommt von dem althochdeutschen ›hagzissa‹, ›hag‹ bedeutet Wald oder Hecke und ›tysha‹ Elfe oder Geist, eine ›hayzissa‹ ist also eine Waldfee. Dieser Wald ist kein Garten oder eine kultivierte Plantage, sondern ein Reich jenseits der menschlichen Regeln und Gesetze, wo die Grenzen der Spezies überschritten werden, Menschen sich in Tiere verwandeln und Bäume Augen bekommen und die Lesenden anschauen. Das verbindet sie mit den Mythen, tatsächlich werden Märchen manchmal als Kryptomythen gedeutet. In dem finnischen Nationalepos »Kalevala« etwa spricht die Preiselbeere zu Marjatta und als Marjatta daraufhin die Beere isst, wird sie schwanger und gebärt den König der Wälder: Interspezies-Kommunikation, -Sex und -Reproduktion vom Feinsten.
Deshalb ist es nur folgerichtig, dass Mimosa Pale und Justyna Koeke auch in den Wald gehen, der hier Zauberwald und Ökotop in einem ist. Projektionsfläche für Wünsche und Ängste – denn im Wald da sind die Räuber / Hexen / Wichtel / Beeren / Stock & Stein & Birkenzweige für die Sauna. Der Wald ist ein unendliches Reservoir von Nahrung für Körper und Phantasie. Pale und Koeke greifen all diese Aspekte mit einer Leichtigkeit auf und vermischen sie zu einen Zaubertrank aus Heimeligem und Unheimlichem, Bekanntem und mehr als Bekannten. Fliegenpilzen und Tinderverabredungen. Also vielleicht eher ein Liebestrank? Let’s talk about sex(ual phantasies)!
Hier wird der Subtext zum Haupttext. Hier wird das Implizite der Bilder zum Expliziten. Und hier wird es spannend, im Sinne von aufregend und angespannt gleichermaßen. Denn sexuelle Phantasien sind ja etwas, was normalerweise in den Bereich des Semiotischen abgeschoben wird. Sprich: Wir sprechen nicht darüber. Und warum sprechen wir so selten über unsere sexuellen Phantasien? Noch nicht einmal mit den Menschen, mit denen wir ein Sexualleben teilen? Denn natürlich haben wir sexuelle Phantasien. Schließlich onanieren wir ja. Erregung ist eine Geschichte, eine Geschichte erzählt in Bildern.
Die Antwort ist: Weil wir keine Sprache dafür haben. Berichtigung: Ganz viele Leute haben ganz viel Sprache dafür. Aber wir haben keine Sprache, die Teil unseres Alltags ist und die wir lernen, wie wir es lernen über andere physische und psychische Sensationen zu sprechen, oder poetischer: leibliche und seelische Sensationen. Also bedienen sich Justyna Koeke und Mimosa Pale der Sprache des Waldes als mythischer Resonanzraum und Nährboden.
Also gehen sie in den Zauberwald, ich weiß, ich wiederhole mich, aber nur, weil ich möchte, dass wir alle in diesen Wald gehen und das Gestrüpp durchdringen. Es trennt uns keine Dornenhecke und kein Fluch vom Ausdrücken unserer Phantasien, nichts außer gesellschaftliche Normen. Und der Angst, dann nicht mehr geliebt zu werden, natürlich.
Dieses Inszenieren von Lust, das Ausstellen von Libido, das selbstbewusste Statement: Ich will ... etwas, ich bin eine Frau, also ein Mensch mit sexuellen Wünschen und Bedürfnissen – ist umso überwältigender, weil die Narrative über Frauen und Sexualität sich zur Zeit auf den Aspekt der Gefahr konzentrieren. So werden in der längst überfälligen #metoo-Debatte sexuelle Grenzüberschreitungen sehr viel breiter von den Medien – und ich darf das sagen, weil ich ja Teil der Medien bin und will, dass wir unseren Job besser machen – diskutiert als beispielsweise Konsens. Dabei gehört zu Prävention nicht nur Gefahrvermeidung, sondern auch die Möglichkeit die eigene Sexualität selbstbestimmt zu gestalten. Und darüber wird, wenn schon nicht geschwiegen, dann doch deutlich nicht genug gesprochen.
Vor kurzem machte der britische Podcast »The Guilty Feminist« einen interessanten Vorschlag: Da sich nur Frauen mit vollem Bankkonto frei entscheiden könnten, ob sie sexuelle Akte vollziehen wollten oder nicht, sollten auch nur reiche Frauen diese Entscheidung treffen dürfen – schließlich kann man bei allen anderen nicht sicherstellen, dass sie das nicht unter Druck tun. Das Interessanteste an diesem Vorschlag war, dass er nicht als Provokation, (die er zweifellos war), aufgenommen wurde, sondern lediglich als Hinweis, (der er selbstredend auch war), darauf, dass Diskriminierung zwar mit Geschlecht aber vor allem mit den Mechanismen des Marktes zu tun hat. Wie konnte ein feministisches Publikum so blind dafür sein, dass hier Frauen zu ihrem eigenen Schutz entmündigt wurden?
Doch damit sind sie nicht allein. So sperrt Facebook routinemäßig Profile von Userinnen, die zu freizügige Bilder von sich selbst posten, und zwar nicht, weil das als anstößig betrachtet wird, sondern um sie vor Sexismus zu bewahren. Mit ähnlicher Motivation installieren Mail-Provider schon mal Filter, die Worte wie Vulva, Vagina oder Brüste blockieren. Da Körperteile nicht à priori sexistisch sind, ist es aussagekräftig, dass die sozialen Medien damit vordringlich Beglotzen, Begrapschen und Belästigen verbinden, anstatt Menschen, die eben jene Körperteile selbstbestimmt präsentieren, genießen oder damit Babys stillen.
Nun hat es eine Geschichte, dass wir bei nackten weiblichen Körpern als erstes an (gegen ihren Willen) entblößt denken, und bei nackten männlichen Körpern an Exhibitionismus, und bei nicht eindeutig zuordenbaren Körpern einen hysterischen Schluckauf bekommen. Es ist die selbe Historie, die dazu führt, dass wir – und damit meine ich Facebook und Instagram und das Gros der Medienberichterstattung und Ratgeber und ... und ... und ... – den Bereich der Sexualität in eine männliche und eine weibliche Sphäre teilen, und nebenbei so tun, als gäbe es nur heterosexuelle Sexualität. Wir sind ja nicht individuell sexistisch, sondern wir haben diesen Blick auf (sexuelle) Geschlechterrollen über Generationen gelernt.
Und das sexistische sexuelle Wissen geht so: Auf der einen Seite stehen ›die Männer‹, die immer den ersten Schritt machen müssen und damit als einzige Gefahr laufen, eine Grenze zu überschreiten – oder die narzisstische Kränkung zu erleben, abgelehnt zu werden – und niemals (oder nur selten) die Erfahrung machen können, selbst (ungewollt) angemacht zu werden.
Auf der anderen Seite sitzen ›die Frauen‹, die Nein-Sagen lernen sollen und non-verbale Signale senden und darauf warten müssen, dass der Richtige – das heißt, der, den sie selbst ansprechen würden, wenn sie denn dürften/könnten – sie anspricht. Egal ob dieser ›er‹ eine ›sie‹ ist oder non-binär. Es geht hier um Geschlechterrollen, die wir so verinnerlicht haben, dass sie uns in Fleisch und Blut übergegangen sind.
Keine der beiden Seiten hat nach diesen Regeln die Möglichkeit zu erfahren, wie es sich auf der anderen Seite des Genderabgrunds anfühlt. Und das ist ein Problem. Aber lasst uns bei ›den Frauen‹ bleiben. Indem sie ihr eigenes Begehren nicht zeigen dürfen, müssen sie nicht die Konsequenzen davon tragen. Denn mit dem Sichtbarwerden geht immer auch die Gefahr einher, das Begehrte nicht zu erlangen und zurückgewiesen zu werden. Soweit so gut. Oder besser gesagt: Soweit so schlecht. Denn durch Fragen und Zurückgewiesen-Werden lernen wir, dass unser Wert nicht (ausschließlich) von anderen abhängt. Das ist eine so zentrale Erfahrung, weil das nicht bedeutet, dass wir weniger begehrenswert sind, weniger liebenswert, ja schlicht weniger wert als zuvor – sondern nur dass diese Person keinen Sex mit uns will. Und das war’s. Die Welt hängt noch in ihren Angeln, oder wo auch immer sie hängt.
Ich bin noch nie zurückgewiesen worden. Nicht weil ich so unwiderstehlich bin, sondern weil ich eine Cis-Frau bin und deshalb noch nie den ersten Schritt machen musste.
Wie sollen Frauen lernen, sich um etwas – einen Kuss, Geschlechtsverkehr, einen Blow Job, einen Job, eine Gehaltserhöhung, eine Beförderung – zu bemühen und wenn sie das nicht bekommen, sich halt um etwas anderes zu bemühen – wenn sie das nicht im sicheren Rahmen von sexuellen Begegnungen trainieren?
Als ich diesen Text den Künstlerinnen vorlegte, wandte Mimosa Pale ein, dass das nicht ihrer Lebenswirklichkeit entspricht. In ihrem Mutterland Finnland seien die Frauen und die Gleichstellung so stark, dass ohne die aktive Frau da gar nichts geschieht. Es bewegt sich also etwas. Doch auch sie ist ständig mit dem Narrativ konfrontiert, dass eine sexuell selbstbewusste Frau einen Mann abschrecke. Konjunktiv. Als wollten Männer nur Sex mit Frauen, die kein Interesse an ihnen haben. Noch einmal Konjunktiv. Warum halten sich diese Geschichten so hartnäckig?
Merke: Sexuelle Potenz und Macht sind Bettgefährten. Deshalb ist es so wichtig, dass wir – nicht nur, aber definitiv auch – über die sexuelle Potenz von Frauen sprechen. Nicht als Alternative zu wirtschaftlicher und kultureller Macht, sondern als Bestandteil derselben. Wie bereits Lacan erkannte, »was dich anmacht, gibt dir Macht.«
Doch wie sollen wir herausfinden, was uns anmacht, wenn wir es nicht ausdrücken, ausprobieren, performen dürfen? Wenn jeder Dating-Ratgeber in jeder »Frauenzeitschrift« uns rät: Gehen Sie nicht auf einen Mann zu, zeigen Sie nicht, dass sie (an ihm, an Sex) interessiert sind – sonst schlagen sie ihn in die Flucht. Immer mehr Menschen – und nicht nur Frauen – lernen nicht herauszufinden, was sie erregt, was sie wollen, was sie wollen könnten. Nein sagen hilft uns hier nicht weiter. Wir müssen auch lernen Ja zu sagen.
»Wir sagen immer, dass wir unserem Partner vertrauen wollen. Und meinen damit: Ich möchte meinem Gegenüber trauen, nichts zu machen, was ich nicht will.« erklärt die Sexologin Betty Martin, die das Wheel of Consent entwickelt hat, um Menschen ein Tool zu geben, über Konsens zu kommunizieren. »Das Problem mit diesem Wunsch ist, dass er unmöglich ist. Eine andere Person kann nicht in jedem Moment wissen, wie ich berührt werden möchte.«
Doch sobald es um Sex geht, wird Kommunikation klein und Gedankenlesen groß geschrieben. Anstatt, Sex als Kommunikation wahrzunehmen, lernen wir, dass zu viel Sprechen die Erregung tötet. Tatsächlich? Und wenn ich ein Flugzeug fliegen will, frage ich auch vorher nicht nach, weil das das spontane Gefühl den Boden unter den Füßen zu verlieren tötet? Nebenbei, geht es bei Sex ja auch nicht nur darum: Willst du das? Ja oder nein? Sondern dass wir über unsere Wünsche sprechen, über unsere Phantasien, dass wir zusammen erkunden, was uns anmacht. Sex ist ein Gespräch und nicht nur eine Frage und eine Antwort. Und dieses Gespräch beginnt mit uns selbst. Und es beginnt mit Bildern, Images und Imaginationen.
Wenn dies ein Radiofeature wäre, würde ich an dieser Stelle das Knacken von Ästen einblenden und hinter Justyna Koeke und Mimosa Pale durch den Wald gehen, würde mir ebenfalls die Kleider abstreifen und mich mit ihnen in den klaren, kalten See gleiten lassen, der im Moment der Berührung zu einem Spiegel wird. »Wenn ich schwimmen kann, kann ich dem Wasser vertrauen. Aber, wenn ich nicht schwimmen kann, kann ich dem Wasser noch so sehr vertrauen, ich werde trotzdem untergehen«, sagt Betty Martins Stimme wie ein Voiceover. »Das ist bei Sexualität nicht anders. Wenn ich meine eigenen Bedürfnisse und Grenzen kenne und weiß, dass ich ein Recht darauf habe, kann ich mir selbst vertrauen. Wenn ich jedoch nicht darüber sprechen kann, werde ich mich immer ausgeliefert fühlen.«
Das ist das explosive Potential dieser Bilder: dass sie so bekannt wie unerhört sind, so nahe und vertraut wie grenzüberschreitend, die Pilze, die aus Pos wachsen, die Körperteile, die sich in die Vegetation einfügen, als hätte ein Baum halt einen Fuß oder einen Arm, die Heide halt eine Klitoris. Wonach jagen diese Hexen mit ihren wirren Haaren und den auf Ästen aufgespießten Würsten? Die Beute findet sich auf einem weiteren Bild. Diese Bilder sind humorvoll und spielerisch, zärtlich und kühn und dabei immer, immer ermächtigend. Oder mit den Worten Betty Martins: »Die schlimmste Entmächtigung ist, nicht zu wissen, wie viel Macht wir in Wirklichkeit haben.«
Ich schaue diese Fotos an und sie legen sich wie eine Folie auf meinen eigenen Körper, und ich will mich sofort ebenfalls ausziehen und meine Brustwarzen durch Kohlblätter blitzen lassen. Ich will die Adern in den Blättern fühlen und die Feuchtigkeit der Erde, auf der ich liege. Ich will, oh ich will wieder Menschen umarmen, aber auch und besonders Bäume. Und das ist vielleicht der wichtigste Grund, warum ich die Arbeit von Pale und Koeke so schätze, weil ich davon überzeugt bin, dass wir alle viel mehr Bäume umarmen sollten.
Let me explain!
Wir wachsen mit dem Narrativ auf, dass Menschen getrennt sind: von einander und von der Welt um uns herum. Und ich glaube, dass hier die Ursache für einen großen Teil der Probleme liegt, mit denen wir uns zur Zeit herumschlagen. Wenn wir uns als getrennt von der Natur wahrnehmen, können wir nicht in bedeutungsvoller Form mit ihr interagieren. Wir können nicht auf Augenhöhe mit ihr kommunizieren. Was wir können, ist die Umwelt auszubeuten oder sie zu retten. Aber nicht konsensuell voneinander und miteinander leben. Deshalb plädieren die Performancekünstlerinnen und Sexökologinnen Annie Sprinkle und Beth Stephens dafür, das Paradigma zu ändern: »From earth as mother to earth as lover!«
Die Professorin für Umweltwissenschaften und Direktorin des Center for Native Peoples and the Environment Robin Wall Kimmerer erinnert uns daran, dass in einigen Ländern die Rechte von allen Spezien in der Verfassung festgeschrieben sind, weil sie als Persönlichkeiten anerkannt werden, während in den USA und auch in Europa Firmen mehr und mehr dieser Rechte haben und nicht Pflanzen, Flüsse und Berge. »Wie wir uns unsere Beziehung zu der lebendigen Welt um uns herum vorstellen, ist zentral. Das durchschnittliche amerikanische Kind kennt die Namen von mehr als 100 Firmenlogos, aber nur von 10 Pflanzen.« Das ist ein Problem, weil Menschen nur erkennen können, was wir bereits kennen. Wenn wir eine Pflanze nicht kennen, sehen wir sie im wahrsten Sinne des Wortes nicht. Der Fachbegriff dafür ist: nature blindness oder plant blindness. Je weniger Namen wir für die belebte Welt um uns herum haben, desto weniger lernen wir sie wertzuschätzen. »Es ist nicht die Umwelt, die zerstört ist. Es ist unser Verhältnis zu der Umwelt das zerstört ist«, schließt Kimmerer.
Die Folgen sind unübersehbar. Nicht nur in der äußeren Welt, sondern auch in der Inneren. Die Psychologie hat inzwischen erkannt, dass Menschen, die sich mit der Natur verbunden fühlen, auch besser in der Lage sind, Bindungen mit anderen Menschen – und sich selbst – zu fühlen. Natürlich ist Sinnlichkeit nicht der einzige Weg, unsere Verbindung mit Bäumen und Sträuchern und Beeren zu spüren. Aber sie ist ein sehr direkter Weg. Liebe deinen Baum wie dich selbst. Sexuelle Energie ist das, was uns mit der Welt verbindet. Sie ist das, was uns menschlich macht und mehr als nur menschlich. Jede Pflanze hat ihre Reproduktionsorgane – was für ein Wort! – ihre sexuellen Fühler und Sinne, ihre Möglichkeiten erotisch zu kommunizieren. Unser Bedürfnis nach Sexualität verbindet uns mit allem Leben. Und ja, auch Steine haben Sex. Fragt mich nicht wie, ich weiß es einfach.
Es verbindet uns mit allem.
Sex ist so viel mehr als nur sexy. Sex ist kommunikativ und transformativ. Sex bedeutet zu erkennen, dass wir und alle(s) um uns herum beseelt ist.
Folgen Sie Mimosa Pale und Justyna Koeke in den Wald.
Lassen Sie sich und die Welt verzaubern!
Mithu Sanyal